Muslim und Kopte - Brüder im Geiste
Text: Sara Mously
Fotos: Ivo Saglietti
Ein halbes Jahr nach der Revolution in Ägypten ist das Land immer noch nicht zur Ruhe gekommen, auch zwischen Kopten und Muslimen gibt es immer wieder Spannungen. Wider alle Schranken verbindet den Christen William Sidhom und den islamischen Gelehrten Gamal Al Banna eine tiefe Freundschaft.
William Sidhom wirkt tranig, wie er da in seinem Büro im Jesuitengymnasium im Kairoer Stadtteil Faggala sitzt. Seit Tagen trägt der Jesuitenmönch dasselbe schwarze Hemd, das Fehlen zweier Schneidezähne verleiht seinem Lächeln etwas Schildkrötenhaftes, passend zum faltigen Hals und der gedrungenen Statur. Eine Zigarette hängt an der Unterlippe und wippt beim Sprechen auf und ab, bis dem 63-Jährigen heiße Asche aufs Hemd fällt und ein weiteres Loch in den Stoff brennt.
Wie Fremdkörper wirken dagegen seine Augen: hellwach unter störrischen Brauen. Sie verraten: Dieser Mann will sich keinen sinnlosen Regeln unterwerfen; er ist nicht bereit, in einem Land zu leben, in dem sich ein Christ nicht ungestraft in eine Muslima verlieben kann, und in dem Sozialkritik mit Haft und Folter geahndet wird.
Entsprechend progressiv ist sein Verhältnis zu den Muslimen, von denen sich viele seiner koptischen Glaubensgenossen bedroht fühlen. Nicht ohne Grund. Die christliche Minderheit der Kopten wird in Ägypten diskriminiert, immer wieder werden koptische Gemeinden zu Zielen islamistischer Attentate wie im Mai dieses Jahres, als radikale Muslime in Kairo eine Kirche in Brand steckten. Dessen ungeachtet lädt Sidhom Muslime zu seinen Gottesdiensten ein wie auch in den Kulturverein „El Nahda“, den er vor 13 Jahren gründete. Auch am koptischen Gymnasium, wo er Philosophie unterrichtet, sind Schüler aller Religionen willkommen. „Nur wenn sich die Menschen begegnen, anstatt sich voneinander abzuschotten“, sagt er, „können sie ihre Vorurteile überwinden.“
Für Pater Sidhom gibt es kein Protokoll, keine Hierarchien
Die Tür zu seinem Büro steht offen, wie immer. In abgewetzten Regalen reihen sich die Bibel und der Koran auf Englisch, Französisch und Arabisch aneinander. An der Wand hängt ein Foto von Jassir Arafat, der Papst Johannes Paul II. die Hand reicht, daneben ein Bild des koptisch-orthodoxen Papstes Shenouda III. Ein Lehrer klopft an den Türrahmen, Sidhom springt auf, stellt den Wasserkocher an. Wer ihn besucht, bekommt als Erstes einen Tee. Das Telefon klingelt. Er lässt seinen Besucher warten und entschuldigt sich nach dem Telefonat: „Eine Mutter“, erklärt er, „sie sorgt sich, dass es auf der Abiturfeier ihres Sohns zu hoch hergehen könnte.“ Er konnte sie mit dem Hinweis beruhigen, einige ältere Brüder seien als Aufpasser eingeteilt. „Ich würde die jungen Leute zwar lieber in Ruhe lassen, aber das ginge den muslimischen Eltern zu weit.“ Wieder klopft es, eine Mitarbeiterin des Kulturvereins bittet schüchtern um seine Unterschrift für eine Rechnung. Er winkt sie herein, rückt ihr einen Stuhl zurecht. Bei Pater Sidhom gibt es kein Zuerst und Danach, kein Protokoll, keine Hierarchien. Für ihn sind alle gleich.
Durch seine Toleranz hat er es geschafft, einen Zirkel von Gleichgesinnten aufzubauen. Menschen um sich zu versammeln, die die Ressentiments zwischen den Religionen satthaben, Dünkel, Neid und Diskriminierungen. Der prominenteste seiner Mitstreiter ist der 90-jährige Islamgelehrte Gamal al Banna.
In Ägypten ist Al Banna eine Berühmtheit, nicht nur, weil er seit Jahrzehnten für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und von Muslimen und Andersgläubigen kämpft. Sondern auch, weil sein älterer Bruder Hassan al Banna im Jahr 1928 die Muslimbruderschaft begründete – die islamistische Vereinigung, deren aktive Anhängerschaft allein in Ägypten auf eine Million geschätzt wird und die einen Staat fordert, der auf den Regeln des Islam aufbaut.
Gamal al Banna kämpft seit Jahrzehnten für einen laizistischen Staat
Bereits als junger Mann debattierte al Banna leidenschaftlich mit seinem Bruder Hassan. Dieser forderte die Scharia, die islamische Rechtsprechung. Gamal al Banna hingegen kämpft seit Jahrzehnten für einen laizistischen Staat. Der Vater der beiden war einfacher Uhrmacher und Autodidakt in Fragen des Islam. 30 Jahre brachte er damit zu, die Überlieferungen des Propheten Mohammed in einer Enzyklopädie zu sammeln. Der kleine Gamal, ein kränkliches Kind, verbrachte viel Zeit mit seinem Vater und dessen Büchern. Währenddessen ging der Ältere schon als Teenager gegen die britische Besatzung auf die Straße, entwickelte unendlichen Hass auf die „dekadenten Kolonialherren“, die ägyptische Arbeiter ausbeuteten und fremde Sitten ins Land brachten. Vor 50 Jahren starb Hassan bei einem Attentat. „Aber der Dissens zwischen uns besteht bis heute“, sagt Gamal al Banna.
Kaum etwas könnte diesen Dissens deutlicher machen als seine Freundschaft mit Pater Sidhom. Gemeinsam verfassen der islamische Gelehrte und der koptische Mönch Schriften über ein sozial gerechtes Ägypten und organisieren Konferenzen über eine Religion, die für sie beide über den Konfessionen steht, und die sie schon miteinander verband, als sie sich noch gar nicht persönlich kannten: die Befreiungstheologie. In den siebziger und achtziger Jahren lasen beide die Schriften des salvadorianischen Erzbischofs Óscar Romero. „Religion soll die Stimme der Armen sein“, heißt es dort und, dass ihr Glaube den Unterdrückten Mut geben und ihnen helfen solle, sich aus der Ausbeutung zu befreien. Für Sidhom und al Banna bildet Gesellschaftskritik bis heute den Grundstein ihres Glaubens.
Zum ersten Mal begegneten sich die beiden vor acht Jahren. Sidhom arbeitete damals an einem Buch über die Befreiungstheologie. Der Verlag hatte vorgeschlagen, dass al Banna das Vorwort dazu verfassen könnte. Seither besucht der Mönch seinen muslimischen Freund einmal im Monat, dann trinken sie dicken, süßen Mokka und diskutieren über Politik und Religion.
Den Gründerzeithäusern ist ihr ehemaliger Glanz noch anzusehen
Al Banna wohnt im Stadtteil Bab El Sharia in Sichtweite der großen El-Sharani-Moschee. Den Gründerzeithäusern im Viertel ist ihr ehemaliger Glanz noch anzusehen: hohe Geschosse, verziert von großzügigen Balkonen. Doch die Fassaden haben über die vergangenen Jahrzehnte ihre Farbe verloren. Wo der Putz nicht abgebröckelt ist, hat ihn der Ruß aus Tausenden Autos ohne Katalysator grau gefärbt.
Langsam steigt Sidhom über ausgetretene, breite Marmorstufen in das erste Stockwerk, wo der alte Mann sich aus seinem Sessel stemmt, um seinen Freund zu begrüßen. Mit seiner Halbglatze und dem grauen, hochgeknöpften Mao-Anzug sieht al Banna wie eine arabische Version des chinesischen Revolutionsführers aus. Seine Augen sind vom Alter so trüb geworden wie die Fenster, durch die das Nachmittagslicht diffus zwischen die Bücherregale sickert. Bücher bedecken die Wände vom Boden bis unter die Decke – es müssen Tausende sein. Zwei bis drei davon schreibt al Banna jedes Jahr selbst, außerdem eine wöchentliche Kolumne für die Tageszeitung Al Masry Al Youm (Ägypten heute). In diesen Artikeln fordert er zum Beispiel, dass auch Frauen das geistliche Amt eines Imam ausüben sollten, und stellt das Rauchverbot im Fastenmonat Ramadan infrage: „Mohammed hat gar keine Zigaretten gekannt. Deshalb konnte er das Rauchen auch nicht verbieten.“ Seit einigen Jahren arbeitet al Banna an einem Projekt, das er „Erleuchtung“ nennt: eine Anleitung, die jeden in die Lage versetzen soll, den Koran zu interpretieren. „So kann man mit seinem Imam diskutieren, statt sich irgendwelchen Unsinn aufschwatzen zu lassen.“
Weil al Banna die Macht kennt, die Imame über ihre Gemeinden haben, sieht er den bevorstehenden Wahlen in Ägypten mit Bangen entgegen: „Überall laufen Prediger herum, die den Menschen sagen, sie kämen in die Hölle, wenn sie nicht die Muslimbrüder wählten. Und wenn die einmal an der Macht sind, werden sie alle Andersdenkenden inquisitorisch verfolgen.“ – „Dazu muss es nicht kommen“, kontert Sidhom. „Lass den Leuten ein bisschen Zeit, und sie werden lernen, was Demokratie ist.“
Der Grund für den Dorffrieden waren französische Jesuiten
Wie al Banna lebt auch Sidhom für die Vision von Gleichberechtigung der Religionen. Er hat sie aus seiner Kindheit gerettet, aus dem Dorf am Nil, in dem er aufgewachsen ist. Seine katholischen Eltern waren Bauern, wie die anderen, meist muslimischen Dorfbewohner auch. Sie bauten Mais und Weizen am Nilufer an, hielten ein paar Ziegen und eine Kuh. Abends saß sein Vater am Webstuhl und wob Seide, so wie die anderen Männer im Dorf.
Der Grund für den Dorffrieden waren französische Jesuiten. Mit einer Töpferei hatten sie etwas Wohlstand in den Ort gebracht. Sie errichteten eine Schule, in der muslimische und koptische Kinder gemeinsam lernten. Früh verehrte Sidhom die Mönche, weil sie so anders waren als die strengen katholischen Geistlichen, die er vom Gottesdienst kannte. „Die Jesuiten waren nah am Volk und trugen dieselbe, einfache Kleidung wie wir.“ So wie sie wollte auch er werden. Deshalb entschloss er sich noch während seines Philosophiestudiums, dem Jesuitenorden beizutreten. Und deshalb gründete er das Kulturzentrum El Nahda als Ort, an dem sich Menschen jeder Herkunft auf Augenhöhe begegnen.
Wenige Gehminuten vom Jesuitengymnasium und Sidhoms Büro entfernt steht das schlichte, zweistöckige Haus, in dem El Nahda zu Hause ist. Seit 13 Jahren werden hier kostenlose Kurse angeboten: Lese- und Debattiergruppen, Mal- und Theaterworkshops, Filmseminare, Kinderbasteln und Kurse für Geschichtenschreiben. Acht bis zehn ehrenamtliche Helfer sind fast immer vor Ort, um rund einhundert Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu unterrichten. Regelmäßig wenden sich Künstler aus aller Welt an das Zentrum, die einen neuen Kurs anbieten oder ein Kunstprojekt verwirklichen wollen.
Eine der Teilnehmerinnen ist die 19-jährige Studentin Nada Mahmoud. Sie steht vor der Tür eines verlassenen Hauses, in der Hand einen Pinsel, mit dem sie Farbe auf das verwitterte Holz tupft. Ihr Kopftuch hat die Muslima sorgfältig um ihr Gesicht herum festgesteckt. Zusammen mit anderen Jugendlichen verschönert Mahmoud die heruntergekommenen Gebäude rings um das Kulturzentrum. Sorgsam malt sie weiter, bis ihr Motiv fertig ist: ein Halbmond, verbunden mit einem Kreuz. Sie geht einen Schritt zurück und betrachtet ihr Werk. „Das ist mein Traum“, sagt sie, „dass wir alle in Ägypten eines Tages in Frieden zusammenleben.“ Beispiele wie dieses zeigen Sidhom, dass er recht hat, sagt der Geistliche: „Die Menschen haben einen Hunger nach Entfaltung und Mitbestimmung, auch in einem System völliger Unterdrückung.“
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Erschienen in Cicero 11/2011.