Der Teufel trägt Prada
Medien beschränken sich oft darauf, über Katastrophen, Probleme und Scheitern zu berichten. Gesellschaften wollen aber wissen, wie sie ihre Zukunft gestalten können. Michael Gleich fordert einen konstruktiven Journalismus.
„Blut und Tote / steigern die Quote.“ So flott können Journalisten reimen. Gerne mit einer Spur Ironie, hier mit einem Kern Wahrheit. Denn tatsächlich verkaufen sich beunruhigende bis alarmierende Berichte und Nachrichten von Kriegen, Naturkatastrophen, Umweltdesastern und Unglücken hervorragend. Oft besser als der Dauer-Seller Sex. Bad news is good news! Geradezu lustvoll richten Online-Magazine wie Spiegel Online ganz oben auf ihren Seiten „Krisenticker“ ein, wo man halbstündlich verfolgen kann, wie die Finanzwelt untergeht. Viele Journalisten haben ein Selbstverständnis als Kontrolleur gegenüber von Regierung, Wirtschaft, Gerichtsbarkeit und Verwaltung oder als Ankläger von Missständen aller Art. Dazu braucht man ein kritisches Bewusstsein. Im Wortsinne bedeutet „Kritik“ Trennung und Unterscheidungskraft. Journalisten sollten in der Lage sein, Schlechtes von Gutem zu trennen, Schädliches von Nützlichem, Ewiggestriges von Zukunftsweisendem. Doch das ist schwierig. Da behelfen sie sich gerne damit, nur die negativen Seiten zu berichten und das dann für „kritisch“ zu halten. Alarmismus verspricht hohe Auflagen und gut dotierte Journalistenpreise, und man gehört zu den Guten. Außerdem ist Schwarzmalen chic. Der Teufel trägt Prada.
Am Lagerfeuer, damals in der steinzeitlichen Urhorde, mochte es angehen, dass man, kaum war Sprache entstanden, zusammenhockte und vor allem das Schlechte und Bedrohliche austauschte. Das machte Sinn, im täglichen Überlebenskampf. Das Lagerfeuer von einst wurde durch den Stammtisch ersetzt, und dort geht es zu wie unter neolithischen Jägern und Sammlern: Es wird geätzt mit Klatsch und Tratsch, Müller wurde von seiner Alten vermöbelt, Meier hat sich mit Aktien verspekuliert, der Bürgermeister ist eh ein Depp. Selten hört man beim Bier davon sprechen, wie nett dieser, wie herzlich jener und wie erfolgreich ein anderer ist. Bad news is good news, garantiert hohe Aufmerksamkeitswerte, auch an der Theke. Insofern könnte man sagen: Was soll´s, Journalisten befriedigen ja nur das uralte Bedürfnis nach dem kleinen Horror zwischendurch. Das Volk will bedroht werden. Also bekommt es den Nachrichtenstoff, der dazu passt, bitteschön!
Was fehlt? Wenn Medien sich darauf beschränken, nur das Versagen – der Manager, der Politiker, des Staates im Allgemeinen und des deutschen im Besonderen – anzuprangern, dann fehlt die andere Seite der Medaille. Das Gelingen. Der Fortschritt. Die positiven Vorbilder. Die Möglichkeiten. Kurz: Es fehlt das Konstruktive. Wir leben nicht mehr in der Jungsteinzeit, sondern in demokratisch verfassten Gemeinwesen, in denen täglich Entscheidungen über die nächsten Schritte getroffen werden. Zukunft ist eine Gestaltungsaufgabe. Im Idealfall beteiligen sich daran möglichst viele Menschen. Damit sie sich eine Meinung bilden können, was denn wohl der beste einzuschlagende Weg sei, brauchen sie Informationen. Nicht nur zu den Problemen, sondern auch zu Perspektiven, Auswegen, Lösungen. Die Menschen wollen wissen, wie es weitergeht. Und genau an diesem Punkt werden sie von den Medien häufig allein gelassen.
Der Begriff „konstruktiver Journalismus“ ist neu. Er entstand nicht akademisch, sondern aus der praktischen Arbeit in den Medienprojekten Life Counts, Peace Counts und Culture Counts. Er weist auf eine Lücke in der Medienlandschaft und gleichzeitig auf einen Weg, sie zu schließen. Hier ein erster Definitionsversuch:
Konstruktiver Journalismus recherchiert und publiziert Lösungen gesellschaftlicher Probleme. Seine Themen sind Organisationen und Orte, wo Lösungen erdacht, erprobt, praktiziert werden und deren Protagonisten. Seine Haltung ist unabhängig und kritisch, um „gut gemeint“ von „gut gemacht“ zu unterscheiden. Er ergänzt andere wichtige Facetten wie Nachrichten-, Wissenschafts- und investigativen Journalismus.
Mit dieser Haltung haben wir – ein Netzwerk von Journalisten – bisher drei Multimediaprojekte initiiert. Life Counts beschäftigte sich mit Biodiversität, der Vielfalt von Tieren und Pflanzen auf der Erde. Dieser Reichtum ist bedroht, vor allem durch industrielle Landwirtschaft, Regenwaldabholzung, ausufernde Siedlungen und Wilderei. Biologen befürchten, dass viele Spezies ausgerottet werden, bevor wir überhaupt Kenntnis von ihnen nehmen. Darunter auch solche Pflanzen, die vielleicht wertvolle pharmazeutische Wirkstoffe enthalten. Das war die Ausgangslage unseres Projekts.
Um Interesse für dieses sperrige Thema zu wecken, entwickelte unser Team aus drei Autoren und einem Designer eine spektakuläre Idee: Alle Tiere auf der Erde sollten gezählt werden. Ob Käfer oder Kamel, Goldfisch oder Gorilla, Ameise oder Ameisenbär. Eine große Volkszählung in der Natur, gehalten Anno Domini 2000. Später, so der Hintergedanke, kann man ja mal nachzählen, wie wir mit unseren biologischen Schätzen gewirtschaftet haben. Das Interesse des Publikums würden wir mit überraschenden Zahlenspielen und Vergleichen wecken, da waren wir uns sicher. Uns lag aber besonders am Herzen, nicht nur eine Problemlage zu beschreiben, sondern weltweit zu recherchieren: Wo funktioniert Naturschutz? Wo gibt es Modelle, Tierpopulationen zu nutzen, ohne sie zu zerstören? Wo sind zukunftsweisende Initiativen und Organisationen bereits am Werk? Für diesen Plan fanden wir starke Verbündete: Ein Pharmakonzern unterstützte die Recherchen, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen wurde Partner der Aktion, das renommierte World Conservation Monitoring Center in Cambridge lieferte das wissenschaftliche Datenmaterial. Der Erfolg von „Life Counts“ – das Buch wurde in Deutschland ein Bestseller und in viele Sprachen übersetzt – lässt sich auch mit dieser Haltung des konstruktiven Journalismus erklären. Das Publikum wusste schon vom Problem des Artensterbens, deshalb konnten wir diesen Teil kurz fassen. Nun wollte es erfahren, was dagegen unternommen wird (oder werden könnte). Wir beschrieben in Reportagen aus aller Welt die interessantesten Ansätze und Modelle, ließen Wissenschaftler und Experten zu Wort kommen, porträtierten engagierte Naturschützer.
Ähnlich beim Nachfolgeprojekt Peace Counts. Einige von den Kollegen in unserem Netzwerk, Autorinnen und Fotografen, recherchieren oft in Bürgerkriegsgebieten. Wir waren zunehmend unzufrieden damit, dass sich die Mainstream-Medien begeistert auf Berichte von Krieg und Flucht stürzen, jedoch eher abwehren, wenn es darum geht, Friedensprozesse zu beschreiben. Ein Redakteur sagte mir dazu: „Das musst du einfach einsehen: Krieg ist spannend, Frieden langweilig.“ Mit einer solch verächtlichen Haltung wollten wir uns nicht abfinden. Auf eigene Faust zogen wir los und suchten in Konfliktregionen nach engagierten, mutigen, kreativen und vor allem erfolgreichen FriedensstifterInnen. Und siehe da, wir fanden sie in Afghanistan genauso wie auf dem Balkan, in Ruanda und Uganda, auf den Philippinen und in Sri Lanka. Seit 2003 haben wir mehr als 150 000 Kilometer zurückgelegt, über 30 Länder besucht, in denen Krieg herrschte oder immer noch tobt. Dabei stellen wir immer wieder fest: Friedensmacher sind faszinierende Persönlichkeiten, die unter großer Gefahr und mit langem Atem agieren. Sie sind soziale Erfinder, social entrepreneurs, lebendige Vorbilder, heimliche Helden. Wir Reporter fühlen uns wie Schatzsucher, die einen bis dahin unbekannten Reichtum an Konfliktlösungen dokumentieren.
Seit 2005 widmen wir uns mit der gleichen Haltung dem neuen Multimediaprojekt Culture Counts (parallel betreiben wir Peace Counts weiter). Dabei geht es um kulturelle Vielfalt und Verschiedenartigkeit. Wieder markierten Probleme den Startpunkt: das Versagen von Integration in Deutschland, Konflikte zwischen ethnischen Gruppen weltweit, Parolen vom drohenden „Kampf der Kulturen“, zugespitzt auf Christen und Muslime. Bei unseren Recherchen – ob in Stuttgart oder Schanghai, in Marokko oder in Australien – suchen wir nach Menschen, Unternehmen und Orten, wo das Zusammenleben trotz (oder gerade wegen?) Verschiedenartigkeit funktioniert. Nach vier Jahren zeigen sich langsam „Muster des Gelingens“. Wir finden heraus, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Verschiedenartigkeit von Menschen nicht als Problem, sondern als eine Lernchance gesehen wird; mehr dazu im Buch „Culture Counts. Wie wir die Chancen kultureller Vielfalt nutzen“ und auf der Website der Advanced Journalism Academy (AJA).
Viel wird der Satz des Fernsehjournalisten Hans-Joachim Friedrichs zitiert: Ein guter Journalist dürfe sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten! Damit wies er auf die Gefahr hin, angetrieben von den besten Absichten den klaren, kritischen Blick zu verlieren. Und in diesem Sinne haben wir uns das Friedrichs-Diktum sehr zu Herzen genommen. Die Counts-Projekte verstehen sich nicht als Werbung für Projekte und ihre Macher, wir machen keine Hofberichterstattung für Weltenretter. Vielmehr recherchieren wir, wie jeder andere Journalist, der sich um Qualität und Sorgfalt bemüht, bei Wissenschaftlern und Experten, in Archiven und Datenbanken. Es geht um eine unabhängige, akribische Prüfung, wie gut ein Umweltprojekt wirklich arbeitet, was an einer praktizierten Methode zur Konfliktlösung wirklich dran ist, was eine Organisation für Kulturaustausch tatsächlich bewirkt. Wir fühlen uns verpflichtet, die kritischen Aspekte transparent zu machen. Das Unfertige, Ambivalente, Fragile darf nicht ausgeblendet werden.
Einen andere, sehr beliebte Interpretation des Zitats von Hajo Friedrichs lautet jedoch, Journalisten müssten „objektiv“ sein. Welch eine Naivität! Wie alle anderen Menschen sind Medienschaffende auf vielfältige Art und Weise in ihrer Weltsicht geprägt und eingeengt. Kindheitserfahrungen und Geschlechterrollen, soziale Prägungen und kulturelle Muster bestimmen mit, wie sie die Wirklichkeit sehen und interpretieren. Sie wählen das eine und blenden das andere aus. Allein die Entscheidung, ob jemand über Gourmettempel und Luxushotels berichtet, über Sport oder Ökothemen, über Unternehmensskandale oder Adelshochzeiten, ist Ausdruck einer bestimmten Haltung. Journalisten wählen aus: ihre Themen, ihre Gesprächspartner, die Orte ihrer Recherchen. Diese Auswahl ist subjektiv. Während selbst „harte“ Naturwissenschaften wie die Physik erkannt haben, dass der Beobachter das Beobachtete beeinflusst, halten die Medien immer noch am Mythos der Objektivität fest.
Das hat ganz praktische Konsequenzen, auch für die Autorinnen und Fotografen in den Counts-Projekten, die immer wieder den Vorwurf des „Gutmenschentums“ zu hören bekommen; das ist die verbale Höchststrafe einer Zunft, die sich gerne abgebrüht und über allen Dingen schwebend gibt. „Geschichten über gute Menschen, die irgendwo in der Welt was Gutes tun – das will doch kein Schwein lesen“, sagte mir einmal ein Chefredakteur, dem wir Reportagen über FriedensstifterInnen anboten. Dass er die Redaktion eines christlichen Monatsmagazins führte, machte diese Abwehr besonders skurril.
Statt einer angeblichen Objektivität nachzulaufen, sollten wir die Subjektivität in der Medienbranche transparent machen. Denn wenn ein Journalist seine unvermeidlichen Prägungen und Muster, die sein Handeln bestimmen, den Lesern offenlegt, entsteht ein klareres Bild. Sobald die eigene Konstruktion von Wirklichkeit reflektiert und transparent wird, weiß das Publikum Inhalte und Tendenzen besser zu bewerten. Eine offen gelegte Subjektivität in Kombination mit sorgfältiger und kritischer Recherche kommt dem alten Ideal von Sachlichkeit womöglich noch am nächsten. Bei den Counts-Projekten haben wir unsere Haltung deutlich gemacht: Wir brennen dafür, Lösungen für Umweltzerstörung, für kulturelle und Gewaltkonflikte zu suchen und darüber zu berichten. Mit offenen Augen. Und immer mit der Möglichkeit, daneben zu liegen und sich zu irren.
Denn wer nach Lösungen sucht, begibt sich auf dünnes Eis. Nehmen wir die Frage, wie man eigentlich Frieden macht? Wie Krieg geht, weiß jedes Kind: Keule nehmen, draufhauen, geschlagen werden, zurückhauen, bis einer über den anderen triumphiert. Frieden dagegen ist ein langwieriger, mühsamer Prozess. Oft geht es einen Schritt voran und zwei zurück. Methoden werden ausprobiert, gelingen hier, scheitern dort. Wir haben bisher in 33 Bürgerkriegsgebieten über die Arbeit von Friedensmachern berichtet, die nach Ansicht von Experten als besonders einfallsreich, mutig und erfolgreich gelten. Dabei müssen wir immer wieder aushalten, dass es keine endgültigen Rezepte gibt. Dafür viel Vorläufiges, Widersprüchliches. Menschen beschreiten Wege, ohne zu wissen, wo sie enden werden. Wer sie als Reporter dabei begleitet, muss Ambivalenzen aushalten und darstellen können. Aber die Expedition aufs dünne Eis lohnt sich. Das Feedback auf Peace Counts zeigt: Es gibt beim Publikum einen großen Bedarf an journalistischen Berichten über mögliche Auswege, zukunftsweisende Modelle, soziale Erfinder und social entrepreneurs. Letztlich geht es darum, Menschen eine Perspektive zu geben. Und, ja: Es gibt einen Markt für Hoffnung.
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