Im Namen der Frau
Text: Diana Laarz
Fotos: Jan Lieske
Auf dem Weg vom Nochkriegsland zum Nachkriegsland haben die Tschetschenen ihre Frauen links liegen lassen. Liphan Bassajewa, Gründerin der Organisation „Würde der Frau“, räumt auf mit alten Traditionen und neuen Moralpredigten. Im Notfall zieht sie auch für wenige Minuten eine Hose an.
Die Verkehrspolitik in China interessiert Liphan Bassajewa herzlich wenig. Im fernen Osten müssen Autofahrer, die 60 Jahre alt werden, angeblich ihren Führerschein abgeben. Hat ihr Mann erzählt. Um sie zu stoppen. Zwecklos. Das war im vergangenen Jahr, als Liphan Bassajewa – 60 Jahre alt – für die Führerscheinprüfung büffelte. Und das Fahren lernen, bei diesen Worten legt sich ein Vibrieren unter ihre Stimme, das sie immer benutzt, wenn sie gehört werden möchte, das Fahren lernen also, war bei all den Hürden, die sie im Leben genommen hat, nun wirklich die leichteste. Wenn Liphan Bassajewa ihren Wagen durch die Außenbezirke Grosnyjs lenkt, mehr rumpelt als fährt, stürmen manchmal Kinder hinter ihr her und schreien die Ungeheuerlichkeit heraus: „Eine Frau, eine Oma fährt Auto.“ Im Stadtzentrum hat eine Eishalle eröffnet, in der es getrennte Eisflächen für Männer und Frauen gibt. Im Fastenmonat Ramadan haben schwarzmaskierte Männer Frauen, die sich ohne Kopftuch auf die Straße wagten, mit Farbpistolen beschossen. Liphan Bassajewa kichert bei der Vorstellung, sie würde jetzt auch noch beginnen, Fahrrad zu fahren. Sie sinkt an die Holzlehne ihres Stuhles zurück und wirft fünf Stück Zucker in den Tee. Sie trinkt ihren Tee süß, sehr süß.
Abends im Restaurant raunt so mancher den Namen Stalin
Grosnyj, die Hauptstadt der südrussischen Republik Tschetschenien, beinahe zwei Jahre nach der Aufhebung des Status als „Gebiet der antiterroristischen Operation“. Russische Kräne, türkische Architekten und tschetschenische Millionäre haben eine zerbombte Stadt wie in einer Zeitmaschine in die Zukunft katapultiert. Für kriegstraumatisierte Männer und Frauen gibt es keinen Freifahrtschein in Richtung Vergessen. Man sieht es an der Art, wie Männer in Zivil vor dem Tiefkühlregal im Supermarkt Maschinenpistolen spazieren tragen, so wie Charlie Chaplin seinen Spazierstock. Halbwüchsige stapfen im Gleichschritt durch die Stadt, als würden eine Lederjacke und ein finsterer Gesichtsausdruck vor der Schizophrenie dieses Landes schützen. Abends im Restaurant raunt so mancher den Namen Stalin, meint aber den tschetschenischen Regierungschef Ramsan Kadyrow und will eigentlich schon wieder gar nichts gesagt haben. Zwischen den Glasfassaden des Wolkenkratzerviertels, zwei 3D-Kinos und dem Banner mit der Aufschrift „Grosnyj – Hauptstadt der Welt“ lebt eine Gesellschaft, verroht und eingeschüchtert. Irgendwo auf dem Weg vom Nochkriegsland zum Nachkriegsland haben die Tschetschenen auch ihre Frauen links liegen lassen.
Der Besuch im Büro der Nichtregierungsorganisation „Würde der Frau“ ist wie ein Bad in der Sonne nach einem Sturz in eisiges Wasser. Die Türen stehen offen. Im Nähzimmer lungern noch Fadenreste und Stoffflicken vom Nähkurs des Vortages auf dem Fußboden. Unter den Nähmaschinen stapeln sich gefälschte Prada- und Gabana-Latschen. Was an die Wand gehört, halten Klebestreifen an Ort und Stelle. Der Zettel „Psychologe“ neben einer Bürotür oder Senecas Spruch: „Wer nicht weiß, welchen Hafen er ansteuert, für den ist kein Wind ein günstiger.“ Liphan Bassajewa kommt unhörbar. Sie steht plötzlich da, wie zufällig in der Mitte des Raumes, wo sich sofort eine Traube Frauen um sie bildet. Sie begrüßen einander auf traditionelle tschetschenische Art, eine seitliche Umarmung, ein Anschmiegen, Hüfte an Hüfte. Liphan Bassajewa trägt dunkle Schatten unter dunklen Augen, sie hat bis halb vier Uhr in der Nacht Emails beantwortet.
Über der Tafel im Biologieraum grüßt Friedrich Engels
Am Vormittag war sie bei einem Runden Tisch. Auch der Mufti kam, der zweithöchste religiöse Führer. Er hat gesagt, man solle Frauen nach einer Scheidung entgegen der Tradition ein Recht auf die Kinder und einen Teil des gemeinsamen Besitzes einräumen. Der Mufti und Liphan Bassajewa sind nicht allzu oft einer Meinung, ein guter Tag also. Abgesehen von dem Schreibtischproblem natürlich. Die Frauen sind vor wenigen Wochen umgezogen, Liphan Bassajewa hat jeder Mitarbeiterin einen festen Arbeitsplatz zugeteilt. Am Ende war dann kein Platz mehr für sie übrig. Seitdem ist sie Schreibtischnomadin.
Eine Schule in Urus Martan, etwa 20 Kilometer von Grosnyj entfernt, hinterm Dorf steigt der Kaukaus wie eine Wand empor. Über der Tafel im Biologieraum grüßt Friedrich Engels, daneben lauert eine Videokamera. Es riecht nach den mitgebrachten Wurst- und Käsescheiben – das Mittagessen. Das Frauenzentrum hat Eltern begabter Mädchen eingeladen, sie sollen ihre Kinder fördern, ihnen mehr zutrauen als Heim und Herd. 18 Mütter und zwei Väter sind gekommen. Eben haben sie das Spiegelspiel gespielt, bei dem ein Partner eine Bewegung vormacht und der gegenüberstehende Widerpart diese wiederholen muss. Fünf Minuten diskutieren sie über ihre Vorbildfunktion und dass Erziehung auch Loslassen bedeutet. Doch schnell, zu schnell ist die Gruppe bei anderen Problemen. Das miese Bildungssystem, dass der Brotpreis innerhalb eines Jahres um 20 Prozent gestiegen ist, der Selbstmord eines Schülers.
Die jungen Männer haben sich den Wahhabiten angeschlossen
Die Psychologin Razet Grimsoltanowa, als einzige ohne Kopftuch, umklammert mit den Händen die Sitzfläche ihres Stuhles, stumm. Sie kennt das schon. Wo immer die Mitarbeiterinnen des Frauenzentrums hinkommen, treffen sie auf dieses übersprudelnde Redebedürfnis. Einen Raum, in dem man offen sprechen kann, gibt es nicht oft in Tschetschenien. Dass es jetzt schon lange nicht mehr um begabte Kinder geht, nehmen sie in Kauf. Wacha, grauhaarig und vergoldete Schneidezähne, erzählt von den Jungen aus seinem Dorf. „Schickt uns endlich Leute, die den Familien helfen, die echte Probleme haben“, nuschelt er fordernd. Ein, zwei Familien kennt er, deren Söhne in den Wäldern leben. „In den Wäldern“, das ist das Synonym für Unheil. Die jungen Männer haben sich den Wahhabiten angeschlossen, die im unwegsamen Kaukasus mit russischen Verfolgern tödliches Räuber-und-Gendarm spielen.
In zwei Kriegen gegen Tschetschenen, die Unabhängigkeit begehrten und Terror als Mittel wählten, hat das russische Militär um die Jahrtausendwende Grosnyj dem Erdboden gleich gemacht. Knapp 200.000 Menschen sind tot oder spurlos verschwunden, sie verschwinden auch heute noch. Tschetschenien ist für Russland eine Sache der Staatsräson. Noch immer bewacht die russische Armee alle Ausfahrten von Grosnyj, in ihrer Freizeit verschanzen sich die Soldaten hinter baumhohen Zäunen kurz vorm Flughafen. Unter den Augen der Moskauer Kremlriege verwandelt sich der Nordkaukasus mit den Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien in einen islamischen Nationalstaat. Als vor wenigen Monaten maskierte Männer mit Paintballpistolen in Grosnyj auf barhäuptige Frauen schossen, stellte ihnen der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow einen Freifahrtschein aus: „Ich weiß nicht, wer sie sind, aber wenn ich sie finde, werde ich Ihnen meine Dankbarkeit ausdrücken.“
Offiziell gilt in Tschetschenien die russische Rechtsordnung
Immer wieder versuchen Selbstmordattentäter, ihre Form der islamischen Lebensweise herbei- und den russischen Staat aus dem Land hinauszubomben, zuletzt im Oktober bei einem Sturm auf das Parlament. Ein Taxifahrer zeigt auf seinem Handy das Bild des abgerissenen Kopfes eines Selbstmordattentäters aus dem Sommer und bedient lachend den Zoom. Offiziell gilt in Tschetschenien die russische Rechtsordnung. Doch die Männer am Schaschlikstand diskutieren, ob sie dem Adat, der traditionell tschetschenischen Rechtsordnung, oder der Scharia, der islamischen, den Vorzug geben sollen. Liphan Bassajewa sagt, im Krieg hätten die Frauen Seite an Seite mit den Männern gelitten, danach seien sie so schwach gewesen wie selten zuvor. Ein paar aber sind stärker als der Rest. Fast alle sozialen Nichtregierungsorganisationen in Grosnyj werden von Frauen geführt.
Liphan Bassajewa thront in ihrem Wohnzimmer, die Hände im Schoß gefaltet. Der Raum ist so groß wie manch eine Wohnung in Grosnyj. Im Sommer toben hier bis zu 18 Enkelkinder, jetzt ist alles verwaist. Die Sofas stehen weit voneinander entfernt, Turnhallenatmosphäre. Liphan Bassajewa hat ihren Stuhl irgendwo im Niemandsland platziert, sie kennt das Gefühl des Abgesondertsein, vielleicht sucht sie es. Natürlich macht ein Krieg die Menschen nicht besser, sagt sie. Und natürlich schlagen Männer Frauen, Frauen Männer und Männer und Frauen ihre Kinder, weil Gewalt in Tschetschenien irgendwann ein Allheilmittel geworden ist. Den Worten von Liphan Bassajewa hört man an, dass sie sie schon oft gedacht hat, sie braucht keine Gesten. Eine neue Gesellschaft aufzubauen ist schwerer, als aus Ruinen eine neue Stadt auferstehen zu lassen. „Wir müssen uns entscheiden, welche Regeln des traditionellen Systems wir erhalten wollen, und welche in der modernen Zeit nur Hürden sind.“ Frauen waren in Sowjetzeiten schon qua Ideologie Säulen der Gesellschaft, jetzt bröckelt ihr Selbstbewusstsein. Liphan Bassajewa hört die Rufe der politischen und religiösen Führung nach neuer Moral, neuen Frauen ohne Entscheidungsgewalt, doch sie will es nicht glauben. „Eine moralische Gesellschaft kann man nicht durch amoralische Maßnahmen erreichen.“
Vor fünf Tagen hätte die Organisation ihre Jahresbilanz veröffentlichen müssen
Elterntraining in Urus Martan, kurz nach dem Mittagessen. Die Tür geht auf, die Direktorin lugt ins Zimmer, kündigt hohe Gäste an. Zwei Herren vom Innenministerium schlendern herein, nicken in die Runde, wie auf Kommando springen alle Frauen auf. Erst als die Besucher sich gesetzt haben, sacken auch die Teilnehmerinnen wieder auf ihre Plätze. Kleine Kontrolle, sagen sie, wollen nur mal schauen, wie es läuft. Im Stuhlkreis wird weiter geredet, die Ministeriumsmitarbeiter krümeln mit Keksen und schlürfen schwarzen Tee. Quer durch den Raum funken die Mitarbeiterinnen des Frauenzentrums mit Blicken SOS. Eine hochgezogene Augenbraue, ein Augenrollen, Razet Grimsoltanowa streicht sich eine Strähne des offenen Haares hinter das Ohr. Eine halbe Stunde nur, dann ist der Spuk vorbei, die beiden Männer verabschieden sich, wieder mit einem Kopfnicken und einem schmalen Lächeln. Als Liphan Bassajewa später von der Visite der Staatsdiener erfährt, sieht sie nur kurz erschrocken aus, dann lächelt sie ihr Mutmacherlächeln. „Wir sind eben gut behütet.“
Am Tag zuvor war sie auf einem Seminar und hat dort von einem neuen Gesetz erfahren. Bereits vor fünf Tagen hätte die Organisation ihre finanzielle Jahresbilanz auf der Webseite des tschetschenischen Justizministeriums veröffentlichen müssen. Ein Gesetz, das Transparenz schaffen soll. Liphan Bassajewa hat von dem Gesetz nichts gewusst, genauso wie die anderen Nichtregierungsorganisationen in Grosnyj nichts davon gewusst haben. Mit klarer Stimme verteilt sie nun die Aufgaben und zupft ihr Kopftuch zurecht. Wenn sie schon zu spät dran ist, dann will sie wenigstens die erste unter den letzten sein. Im Weggehen fragt sie noch nach den genauen Regeln der Fußwaschung vor dem islamischen Gebet. Es gibt immer mehr Frauen, die sich danach erkundigen.
Liphan Bassajewa gibt Männern die Hand und glaubt „eher universell“
Liphan Bassajewa gibt Männern die Hand, etwas, was eine tschetschenische Frau normalerweise nicht tut. Sie trägt ein Kopftuch, hält sich jedoch nicht an die fünf islamischen Gebetszeiten. Sie glaubt, aber „eher universell“ sagt sie. Sie ist eine Frau des Wortes, kann die Lorelei zitieren und den Ursprung deutschstämmiger Wörter in der russischen Sprache bis an den Zarenhof von Katharina der Großen nachvollziehen. Eine Linguistin, die das Schicksal irgendwann an einen Grenzposten zwischen den Nachbarrepubliken Tschetschenien und Inguschetien spülte. Dort wurden im Jahr 2000, inmitten des zweiten Tschetschenienkrieges die Flüchtlinge durchgeschleust. Liphan Bassajewa schrieb auf, was Frauen und Männer unter Weinkrämpfen noch herausbrachten. Wie viele Verwandte verloren? Wer wurde gefoltert und von wem? Wer wird vermisst? Wer ist wieder aufgetaucht? Die Informationen, die Liphan Bassajewa sammelte, gingen an die bekannte russische Menschenrechtsorganisation Memorial und von dort um die ganze Welt. Memorial war schon im ersten Krieg auf die Professorin aufmerksam geworden, die Frauen um sich scharte, auf den zerbombten Straßen von Grosnyj mit Plakaten gegen den Krieg protestierte und inmitten des Chaos verlässliche Zahlen lieferte. Darum gaben sie ihr im Flüchtlingscamp in Inguschetien ein eigenes Büro, einen Computer, zwei Mitarbeiter und 100 Dollar Lohn im Monat.
Liphan Bassajewa begann mit ihrer Arbeit, trotzdem zwei Brüder gestorben waren. Einer bei einem Verkehrsunfall, der andere stand neben dem Präsidenten Dschochar Dudajew, als der 1996 bei einem Bombardement russischer Kampfflugzeuge getötet wurde. Sie machte weiter, als der Krieg offiziell für beendet erklärt wurde und gründete Ende 2002 mit Mitstreiterinnen „Würde der Frau“. Sie hielt an ihrer Arbeit fest, als 2004 ihr eigenes Leben bedroht wurde. Was damals genau passierte, möchte Liphan Bassajewa lieber nicht in einem Zeitungsartikel lesen. Es genügt zu sagen, dass zu dieser Zeit die Menschenrechtlerin Zura Bitijewa und ihre Familie in der Nacht von maskierten Männern erschossen wurden. Zweieinhalb Jahre lebten Liphan Bassajewa und ihr Mann in Hamburg, sie war Gast der damaligen Stiftung für politisch Verfolgte. In Deutschland konnte sie Kontakte knüpfen, das war ganz gut so. Vom eigenen Staat gibt es nämlich fast keine Unterstützung. Im vergangenen Jahr kam ein bisschen staatliches Geld an, Liphan Bassajewa hat davon zwei Fitnessgeräte gekauft.
Die Familie lebt von 800 Rubel Arbeitslosengeld, knapp 20 Euro
Mit der Lautstärke aus dem Fernseher könnte Diana Chunkarowa eine Wohnung beschallen, die dreimal so groß ist wie der Keller, den sie ihr Zuhause nennt. Offene Kabel an der Betondecke, nackte Glühbirnen, ein mit Tape zusammengehaltener Gasschlauch neben dem Bett feuert den einzigen Ofen an. Auf dem Bildschirm bringt sich ein blau-rotes Fellmonster gegen einen Ninjakämpfer mit Strubbelfrisur in Stellung. Manga gegen die Trostlosigkeit. Vor dem Fernseher kauert der fünfjährige Selem und stapelt DVDs von einem Haufen auf den anderen und wieder zurück. Diana Chunkarowa ist Klientin des Frauenzentrums, auch wenn sie heute mal wieder daran erinnert werden muss. In zwei Tagen ist wieder Mutter-Kind-Kurs.
Jacha Sajdulajewa, medizinische Mitarbeiterin bei „Würde der Frau“, sitzt auf der Kante des einzigen Sessels und nickt, Diana Chunkarowa erzählt. Ihr Mann ist im Moment nicht da. Er ist zum Bruder gefahren. Das Rumsitzen unter der Erde macht ihn nervös, am Abend kommt er bestimmt wieder, ganz bestimmt. Früher hat er noch ab und zu Geld auf dem Markt verdient, so kam auch der DVD-Player in die karge Behausung. Dann wurde ein neuer Markt aufgebaut, einer, der zum Hochglanz-Grosnyj passt. Für Diana Chunkarowas Mann ist kein Platz mehr. Die Familie lebt von 800 Rubel Arbeitslosengeld, knapp 20 Euro, und dem, was die Verwandten übrig haben. Die Hoffnung der Chunkarowas hängt an dem zweiten Sohn, der in wenigen Wochen geboren wird. Wer nach der Geburt des zweiten Kindes einen entsprechenden Antrag stellt, hat in Russland seit kurzem die Chance auf über 5.000 Euro einmaliges Kindergeld. Die werdende Mutter rechnet fest mit dem Rubelregen. Im Krieg hat sie ihren Schwiegervater und ihr Mann einen Großteil seiner Familie verloren. Irgendwie, findet Diana Chunkarowa, hat der Staat so einiges bei ihr gut zu machen.
Mit 16 Jahren wurde Jacha von ihrem jetzigen Ehemann entführt
Neun Frauen arbeiten bei „Würde der Frau“, jede von ihnen kann von Wohl und Wehe des Landes berichten. Jacha mit der schwarzen Haarmähne. Als kleines Mädchen hängte sie sich bei einer russischen Kontrolle so lange weinend an ihren Vater, bis beide weiterziehen durften – und rettete so vermutlich sein Leben. Noch heute wacht sie vom Bombengeheul in ihren Träumen auf. Mit 16 Jahren wurde sie von ihrem jetzigen Ehemann entführt, als sie gerade auf dem Heimweg von der Universität war. Ein Brautraub, wie er in Tschetschenien gerade eine Renaissance erlebt.
Oder Luiza Adachanowa, mondän und verletzlich. Sie lebte in Wien, Berlin und Istanbul, bevor ihr Mann Anfang der 90er Jahre in Moskau ermordet wurde. Bei „Würde der Frau“ bringt sie Frauen bei, wie man bei Windows Word-Texte abspeichert und Excel-Tabellen anlegt. Manchmal findet eine Frau aus dem Kurs wieder eine Arbeit. Dafür nimmt Luiza den geringen Lohn in Kauf, die beiden Löcher überm rechten Knie in der Strumpfhose, für die sie sich keinen Ersatz leisten kann, und teilt Zimmer und Bett mit ihren beiden fast erwachsenen Söhnen.
Das Kopftuch und der verdächtige Nachname reichten als Ablehnungsgrund
Die Übersetzerin Laura Kadyrowa hält den Kontakt zu den ausländischen Partnern. Ihr Vater starb an Lungenkrebs, wie viele Tschetschenen, die in der Zeit der Deportation nach Kasachstan nach dem Zweiten Weltkrieg im Uranbergbau schufteten. Laura hat in Moskau studiert, eine Arbeit fand sie in der Hauptstadt nicht. Das Kopftuch und der verdächtige Nachname reichten als Ablehnungsgrund. Restrussland ist auf den Islam im Moment nicht gut zu sprechen. Es gibt bei „Würde der Frau“ eine Ärztin, die Vergewaltigungsopfer betreut, junge Mütter berät und Mädchen aufklärt, damit sie gar nicht erst allzu junge Mütter werden. Es gibt eine Juristin, die Witwen in ihrem Kampf um ihre Kinder und ihr Erbe unterstützt. Und Psychologinnen, die Seelenwunden heilen, die der Krieg gerissen hat. Neun Frauen gegen das Trauma eines ganzen Landes. Mehr als alles andere, sagt Liphan Bassajewa, braucht das gesamte Volk vor allem eins: Ruhe.
Es fällt schwer, sich Liphan Bassajewa am Strand von Mallorca vorzustellen. Aber sie war da, Urlaub in trauter Zweisamkeit. Da gab es dieses Rockproblem. Alle Touristinnen auf Mallorca tragen Sandalen und kurze Hose. Und Liphan Bassajewas Mann wollte, dass seine Frau dazu gehört. Also kaufte er ihr, die von klein auf nichts anderes als Röcke trägt, eine kurze Hose. Liphan Bassajewa weigerte sich, sträubte sich, ließ sich schließlich überreden. Wenige Minuten trug sie die Hose, so lange, bis ihr Mann den Fotoapparat zückte. Da hat Liphan Bassajewa mal kurz die Beherrschung verloren und wollte die Kamera kurz und klein schlagen. Sie hat dann schnell wieder den Rock angezogen. Die Hose liegt noch im Schlafzimmerschrank. Für alle Fälle.