Mateo will leben
Text: Tilman Wörtz
Fotos: Antonia Zenarro
In der kolumbianischen Koka-Hauptstadt Medellín zeigt eine Initiative von über achtzig Hip-Hoppern, wie sich Jugendliche Respekt erobern können: Mit dem Mikro - statt mit Drogen und Gewalt.
Die Eisentür scheppert fünf Mal. Claudia blickt von ihrer Nähmaschine auf, Mateo stoppt sein Videospiel. Der Bullterrier Attila bellt. „Wer da?“ ruft Claudia.
„Mach schon auf“, brummt ein Kerl namens „Radio“.
Fünf Mal klopfen - das vereinbarte Zeichen. Doch Claudia öffnet erst, nachdem sie „Radios“ Stimme erkannt hat. Ein Unbefugter hätte das Signal ausspioniert haben können, man kann nie wissen. Schon gar nicht nach Anbruch der Dunkelheit, wenn kaum jemand auf der Gasse vor dem unverputzten Backsteinhaus zu sehen ist, kein Taxi, kein Bus. Nur hinten an der Ecke sitzen zwei Männer auf Plastikstühlen und trinken Bier.
„Radio“ tritt ein und sagt: „Sie haben Jaime erschossen.“ Er geht zum Kühlschrank und nimmt eine Dose mit getrockneten Marihuana-Blättern heraus.
„Er saß neben seiner Mutter in der Kirche. Fünf Schüsse in den Kopf.“
„Wer war´s?“ fragt Diego.
„Die Polizei sagt, die Bande `Los Cocos´. Keine Ahnung, ob das stimmt.“
„Radio“ dreht sich einen Joint.
„Wer spielt mit mir?“, fragt Mateo.
Aus einem winzigen Ghettoblaster drücken harte Beats und Rap-Gesang. Musik von „Radio“, Mateo, Diego und den anderen Mitgliedern der „Eskalones“.
„Warum bist Du gegangen, ohne uns auf Wiedersehen zu sagen? Warum, Gott, ging mein hermano, er war kein malo.“
Eines Tages klopfte es an seiner Tür
Jeder zweite Song der „Eskalones“ handelt von Mord, Verlust und Trauer in der Comuna 13, einem Armenviertel im Westen Medellíns, Kolumbiens zweitgrößter Stadt. „Ruhe in Frieden“ beklagt den Tod von Chelos Jugendfreund Ali: Er wollte nicht für die Drogenmafia in seinem Viertel Pradera arbeiten, gab freche Antworten. Eines Tages klopfte es an seiner Tür, er öffnete, und der Killer stach ihn mit einem Messer nieder.
Den Song „Ruhe in Frieden“ hat Chelo geschrieben, Bandleader der Eskalones und Bruder des 14-jährigen Mateo. Auch Chelo wurde erschossen.
Er war mit Mateo auf einem Rap-Konzert im Parque de la Floresta. Sie gingen nebeneinander, links ein dreistöckiges Gebäude, rechts ein Kinderspielplatz. Es war schon dunkel. Mateo surrten plötzlich die Ohren. Sein Bruder sank zusammen. Noch drei Schüsse. Mateo sah den Täter nicht einmal. Auch Chelos Tod ist ungeklärt. Vielleicht eine Verwechslung? Die Polizei kam für eine halbe Stunde bei Mateo vorbei. Stellte ein paar Fragen zum Tathergang. Abgehakt. Ein Toter mehr in der Comuna 13. Einer von über zweihundert im vergangenen Jahr.
Doch anders als bei den zweihundert anderen sorgte Chelos Tod für Wirbel: Er war schon der dritte Leader einer Hip-Hop-Band aus der Comuna 13, der innerhalb eines Jahres von Killern der Drogenmafia, den sogenannten sicarios, erschossen wurde. Culacho, André, Chelo – die Häufung brachte die Presse auf: Chelo wurde Held einer Titelgeschichte im Boulevardblatt „Q´hubo“ – „Was gibt´s?“. Die UNO mutmaßte, dass die Drogenmafia die erstarkende Hip-Hop-Bewegung in der Comuna 13 als Konkurrenz betrachte und deshalb durch den Mord einiger Führungsköpfe Fanale setzen wolle.
Die Comuna 13 ist eine Stadt in der Stadt
Anders als im Stammland USA ist Hip-Hop in der Comuna 13 kein Gangster-Rap. Über 80 Rapper, Tänzer und Graffiti-Künstler wollen in der „Elite de Hip-Hop“ ihre Kunst und ihr Leben in den Stadtteil tragen und ihn so transformieren, wollen eine Schule gründen und so Kindern und Jugendlichen ein alternatives Vorbild zum Karrieremodell sicario sein, das sich bisher als einziges im Armenviertel anbot.
Die Comuna 13 ist eine Stadt in der Stadt, ein Durcheinander aus Backsteinhäusern, das sich die Hänge des Aburratals hinaufwürfelt. Gassen und Treppen – „escalones“ - durchziehen die Siedlung. 140.000 Menschen leben schätzungsweise hier. Mitten hindurch führt die Straße zum kolumbianischen Pazifikhafen Urabá, über den 80 Prozent des Kokains außer Landes geschafft werden. Wer den Drogenhandel kontrollieren will, muss diese Straße kontrollieren und damit die Comuna 13. Sie ist deshalb nicht irgendein Armenviertel in Lateinamerika, sondern zum Symbol für den Teufelskreis aus Armut, Drogen und Gewalt in lateinamerikanischen Städten geworden.
Die Regierung hat die Comuna 13 zur militarisierten Zone gemacht: An vielen Ecken wachen Soldaten oder Polizisten mit Schnellfeuergewehren und schusssicheren Westen. Auf einem Hügel im Zentrum der Comuna 13 parken zwei Panzer. Seit einer großen Militäroperation vor acht Jahren, bei der wahllos von Hubschraubern auf Häuser der Comuna 13 geschossen wurde, hält das Militär den Stadtteil besetzt. Bei der „Operación Orion“ hat die Armee die Guerrilla mit Hilfe paramilitärischer Killertruppen vertrieben. Damals wurde die Elite de Hip-Hop und mit ihr das Musikfestival „Revolution ohne Gewalt“ gegründet. Offiziell wurden die Paramilitärs in Kolumbien vor sechs Jahren aufgelöst, ihre Mitglieder aber schlossen sich der Drogenmafia an und morden weiter. Statt die Gewalt in der Comuna 13 einzudämmen, erpressen auch Polizisten und Soldaten Schutzgelder und kontrollieren in einigen Vierteln gar den Drogenhandel.
„Radio“ möchte den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen
„Wir sind gegen niemanden“, beschwichtigt „Radio“ und stößt den Rauch seines Joints aus. „Gegen jemanden sein“ ist in der Comuna 13 gefährlich. „Radio“ möchte mit seiner Musik den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen. Er hat sich in das Tonstudio der Eskalones zurückgezogen. Auf vielleicht zehn Quadratmeter drängen sich ein kleines Sofa, zwei Plastikstühle, ein Tisch mit Mischpult, Computer und Keyboard und eine Aufnahmekabine mit Mikrofon. Die „Attila Records“ sind nach dem Bullterrier Attila benannt. „Der ist zu fett und darf nicht rein“, sagt Diego. „Meine Kuh“, nennt ihn Mateo. In ihrem Studio verbringen die Eskalones jeden Tag. Eine Hip-Hop-Band auf der Flucht innerhalb ihres Stadtteils.
Bereits wenige Tage nach Chelos Mord wartete ein Motorradfahrer nach der Schule auf Mateo und verfolgte ihn auf dem Nachhauseweg. Mateo brachte sich so schnell wie möglich in Sicherheit. Auch „Radio“ bekam Drohungen auf seiner Facebook-Seite: „Es ist besser, wenn Du verschwindest. Wir wollen Dich nicht.“ Also flüchteten die Eskalones zu Diego und seiner alleinerziehenden Mutter Claudia, für die Jungen „la madrina“, eine Art Patentante. „Ich habe die Jungs gern um mich“, sagt sie.
Claudias Wohnung bietet den Eskalones Schutz, weil sie in einem Teil der Comuna 13 liegt, der vom Clan der San Sebastian kontrolliert wird, aber Chelo wahrscheinlich von Killern der rivalisierenden Valencianos erschossen wurde. Eine unsichtbare Grenze verläuft zwischen den Clans Valenciano und San Sebastian entlang der Seilbahn, die quer durch die Comuna 13 führt. Doch diese Grenze ist nicht genau umrissen, es gibt Enklaven, Schießereien von Hügel zu Hügel, Kämpfe um jedes Haus. Kinder, Frauen und Alte können sich frei bewegen. Für junge Männer sind Grenzverletzungen dagegen lebensgefährlich: Sie könnten für Spitzel oder gar Killer der feindlichen Drogenbande gehalten werden. Jeder junge Mann in der Comuna 13 ist ein potentielles Bandenmitglied der einen Seite und damit Feind der anderen. Auch wenn er das gestern vielleicht noch nicht war – heute könnte er es sein.
Fünf Titel hat die Gruppe schon produziert
„Radio“, 24 Jahre alt und gelernter Herrenfriseur, sitzt mit nacktem Oberkörper am Computer und bastelt stundenlang an einem Schlagzeug-Rhythmus und einer Basslinie, mischt schließlich noch Klavierakkorde in die Spur. „Radio“ mag vor allem C-Dur und a-Moll. Seinen Namenszug hat er in Fraktur auf den Rücken tätowiert. Er verdankt seinen Spitznamen der Tatsache, dass sein Vater ein beliebter Radiomoderator war. Die Aufnahmen sollen zu einer CD von Mateo in Erinnerung an Chelo werden. Radio kommt mit der Produktion von Beats kaum hinterher – Mateo schreibt derzeit sehr viel. Fünf Titel hat die Gruppe schon produziert.
Mateo plappert sich in der Aufnahmekabine warm. Ein viel zu großer, blau-weißer Pullover, den Patentante Claudia mit einer Kapuze veredelt hat, hängt bis in die Kniekehlen. „Geben wir´s zu: ich bin der Coolste“, raunzt Mateo und lacht.
„…glaube nicht, ich sei ein Junge ohne Schutz, zieh mich nicht in den Schmutz / ich sag nein zum Krieg / ich tu niemand nichts, gebrauche Worte statt Waffen / bin ein Rapper wie mein Brother, bin ein Hahn in der Kommune, der nur friedlich krähen will…“
Ständig tauchen neue Gesichter mit Baseballkappe, Basketballschuhen und weiten Hosen bei Attila Records auf, setzen sich aufs Sofa, ziehen an einem Joint, bekommen von Claudia Limonade oder Maisfladen mit Käse gereicht. Ungefragt kommentiert sie den regen Marihuana-Konsum in ihrem Haus: „Am liebsten wär´s mir, sie rauchten gar nicht. Aber wenn sie´s schon tun, dann lieber hier als auf der Straße.“ Beim gemeinsamen Drogenkonsum entstehen Freundschaften. Drei ihrer Neffen schlossen sich „aus Langeweile“ den malos, den Schlechten, an und wurden erschossen. „Ich lasse sie nicht nach 18 Uhr auf die Straße.“ Die Patentante fürchtet, Mateo könnte noch nicht so gefestigt sein, wie seine Texte Glauben machen.
Der Stiefvater handelte mit Kokain, seine Mutter schnupfte
Auch Juan T, so sein Künstlername, erlag einst dieser Versuchung. Heute zwängt er seinen schlaksigen Körper neben Mateo aufs Sofa, überragt ihn um eineinhalb Kopflängen. Mateo hängt sich um seinen Hals. „Radio“ legt einen Sprechgesang von Juan T auf:
„Ich hab’ begriffen und bleib´ firm / aber wenn´s so einfach wär / würd ich keinen Hass verspüren / wenn sich die Dämonen nähern.“
Der Stiefvater handelte mit Kokain, seine Mutter schnupfte. Neugierde verführte ihn, es auch zu probieren. „Ich trat nicht wegen des Geldes in die Drogenmafia ein“, sagt Juan T. Er verdiente beim Dealen nicht mal den kolumbianischen Mindestlohn von umgerechnet 200 Euro im Monat. „Ich wollte Respekt. Alle tuschelten ehrfürchtig, weil ich einen Revolver im Hosenbund trug: Guck mal, das ist der mit dem Eisen!“
Juan T machte Karriere: Zuerst arbeitete er in einer „Fabrik“ und rollte Joints, dann wurde er verantwortlich für den Transport der Ware zu den „Verkaufsstellen“ – meist Fußballplätze oder Privathäuser –, bekam schließlich eine Waffe, um sich gegen Überfälle feindlicher sicarios verteidigen zu können.
Doch dann schnappte ihn die Polizei. Juan T wurde in seinen vier Jahren Jugendknast zum Mechaniker ausgebildet. Den Respekt im Viertel verschafft er sich als Rapper bei den Eskalones. „Das ist schwieriger, aber man lebt länger. Und bewusster.“
Ein Handy surrt: „Wo steckst Du, Brother?“ „Radio“ ist mal wieder zu spät dran. Die Versammlung der „Elite de Hip-Hop“ hat bereits begonnen. „Radio“ schließt die Eisentür und wagt sich auf die Straße.
Theaterblut lässt Schusswunden echt aussehen
Auf seinem Weg passiert er einen Bolzplatz, auf dem die Polizei gerade mit der Nachbarschaft eine Übung abhält. Theaterblut lässt Schusswunden echt aussehen, aufgeklebte Glasscherben ragen aus nackten Männerbrüsten, als seien sie gerade damit niedergestochen worden. Was tun in so einem Fall? Erste Hilfe in der Comuna 13.
Nahe der Metrostation San Javier tagt die Elite de Hip-Hop in einem zweistöckigen Gebäude der christlichen Jugendorganisation YMCA. Auf dem Dach hat der Rapper und Gärtner Akka einen Kräutergarten angelegt. Im Versammlungsraum warten acht Jugendliche in Hip-Hop-Kluft, bis endlich „Radio“ auftaucht. Er ist Koordinator der Abteilung „Ausbildung von MCs“ für die neu zu gründende Schule. MC ist eine Abkürzung für „Master of Ceremony“, wie sich Rapper nennen - neben Graffiti, DJ und Breakdance ist MC das vierte Unterrichtsfach der Hip-Hop-Schule.
Die MCs skizzieren einen Stundenplan: Rhythmik, Körpersprache, Atemtechnik, verbaler Ausdruck, Geschichte des Rap. Was die Teilnehmer bisher auf der Straße als Autodidakten gelernt haben, soll System bekommen. Einige von ihnen geben bereits sporadisch Unterricht. Im Eingangsbereich der Bibliothek tanzen täglich ein halbes Dutzend B-Boys Breakdance, die Älteren lehren die Jungen. Der Graffiti-Künstler „El Perro“ – der Hund – unterrichtet seinen jüngeren Freund Santi: Der ist gerade aus dem Koma erwacht, in das ihn ein Schuss in den Kopf beförderte. Apathisch und in eine Decke gewickelt, haucht er mehr, als dass er spricht. Seine Mutter glaubt, dass El Perros Lektionen über die Geschichte der Graffiti-Kunst seine Lebensgeister wieder wecken könnten.
Solche Erlebnisse machen die Jugendlichen selbstbewusst. Sie wollen ihr Wissen nicht nur an einige wenige, sondern an hunderte Schüler weitergeben. Sie könnten aus ihrer Berufung einen Beruf machen und damit Geld verdienen. Die Stadtverwaltung von Medellín zahlt jedem Hip-Hop-Lehrer für drei Monate ein Stipendium in Höhe eines Mindestlohns von umgerechnet 200 Euro monatlich, lädt sie zu Festivals ein oder in den Schulunterricht, wenn von Gewaltlosigkeit und Umweltschutz die Rede ist. Viel Geld und Respekt für jemanden, der bisher als Taugenichts galt. Gelingt den Jugendlichen der Aufbau der Schule, hat die Stadtverwaltung die Verlängerung der Stipendien in Aussicht gestellt. Der „Marketing“-Ausschuss der Schule will Kontakte zu privaten Sponsoren in Medellín und internationalen Geldgebern knüpfen. Wie man so was macht, haben Sozialarbeiter des YMCA den Jugendlichen beigebracht.
„Bruder, jetzt hörst Du Dich an wie ein Politiker.”
Der Erfolg der Elite hat sich herumgesprochen, immer mehr Hip-Hopper aus der Comuna 13 wollen Mitglieder werden. Das stellt die Jugendlichen vor das klassische Problem einer Bewegung, die zur Organisation wird. Im Plenum am Abend soll es geklärt werden. „Brüder, es kann doch nicht jeder kommen und am nächsten Tag mitbestimmen wollen, oder was?“, protestiert Chronos. Er schlägt vor, dass sich ein neuer Rapper erst mal auf kleineren Konzerten beweisen muss, bevor er ein Stimmrecht bekommt und auf die begehrten Festivalreisen geschickt wird.
Da rufen die anderen: „Bruder, jetzt hörst Du Dich an wie ein Politiker. Sind wir eine Gewerkschaft? Wir müssen für alle offen bleiben. Stell Dir vor, da kommt ein kreativer Junger mit einem neuen Stil und wir sagen: Nein, Du noch nicht!“
Endlich steht ein großer Dicker mit Baseballkappe auf, hebt und senkt seinen linken ausgestreckten Arm, als wolle er die erhitzten Gemüter streicheln. „Brüder, Transparenz ist wunderschön. Jeder soll sagen, was er denkt, aber nicht alle gleichzeitig. Lasst uns immer das Ziel vor Augen haben: Die Comuna 13 durch unseren Hip-Hop verändern!“
Der Buddha mit der Baseballmütze heißt Jason und leitet den „politischen Ausschuss“, der den Kontakt zur Stadtverwaltung hält und damit zur Geldquelle. Jason, 24, ist in der Band CEA der Nachfolger Culachos, des ersten ermordeten Hip-Hoppers, nach dem auch die Schule benannt werden soll. Er nimmt keine Drogen – „das hieße, der Mafia Geld in den Rachen zu schmeißen“ – und reduziert den Kontakt zu den Sicarios in seinem Viertel aufs Grüßen bei zufälligen Begegnungen. „Wer zu oft mit ihnen gesehen wird, gilt als einer von ihnen.“ Jason war Gründungsmitglied der Elite und kennt die Diskussionen, die sich dann entfachen, wenn es etwas zu verteilen gibt. Er überlegt: „Bringt uns das Geld der Stadt vom Weg ab? Es muss darum gehen, Respekt durch Hip-Hop zu erwerben, nicht durch Waffen wie die Sicarios; Feste zu feiern, ohne Kokain zu schnupfen; aber: auch Geld zu verdienen nur eben ohne dafür jemanden umzulegen. Sollen die Rapper doch zur uns kommen, wenn sie sich bezahlte Auftritte und damit neue Nike-Schuhe erhoffen. Wir wollen das Gleiche wie die sicarios, nur mit anderen Mitteln!“
„Heute sind die Eskalones die Stars der Elite.“
Dazu gehört für Jason auch, dass eine Genehmigung für ein Konzert nicht durch Geld oder Androhung von Gewalt über befreundete sicarios erzwungen, sondern ganz ordentlich bei der Stadtverwaltung beantragt wird. Oder dass nicht jeder nur nach seinem eigenen Vorteil schaut und auch mal seine Boxen oder ein Mikrofon ausleiht, ohne dafür gleich Geld zu verlangen. Jason arbeitet oft umsonst: Er entwirft Flyer für die Konzerte anderer Bands, geht zu Versammlungen und tritt bei Benefiz-Festivals auf.
Jason sieht in Radio und seinen Eskalones ein gutes Beispiel, wie die Elite de Hip-Hop Jugendliche transformieren kann: „Sie wollten lange nichts von uns wissen, haben Gangster-Rap gemacht. Doch seit einem Jahr sind sie aktiv dabei, schreiben Texte über ihre Vision einer friedlichen Komuna 13. Sie haben sogar ein Bandmitglied rausgeschmissen, das auf der Straße vor den Kindern Joints rauchte. Heute sind die Eskalones die Stars der Elite.“
Als „Radio“ nach Hause zur Patentante Claudia kommt, steht Mateo mit dem Ghettoblaster vor der Tür, lässt seine Songs laufen und tratscht mit Freunden. Weiter will er sich nicht allein vom Haus entfernen. „Radio“ klopft fünf Mal an die Tür, tritt ein und setzt sich im Tonstudio an den Computer.
„Vor der Metrostation haben sie jemanden erschossen“, erzählt Diego, „er saß im Auto, ein Motorrad fuhr vorbei und – bum, bum, bum.“
Niemand antwortet.
Der Abend wird lang. Ein Tetra-Pack mit Schnaps kreist im Studio. Claudias Freund kommt zu Besuch. „Hey, Willy der Wal!“, jubelt Mateo, als er seinen pummeligen Kumpel erblickt. Nach Mitternacht rollen Diego und Sombras eine Tanzfläche für Breakdancer im Wohnzimmer aus und schlafen darauf. Sie sind zu zehnt in der Wohnung ihrer Patentante, aber es gibt nur drei Betten. Nicht mal für einen Esstisch ist Platz.
Mateo ist der Justin Bieber der Comuna 13
Am nächsten Morgen rollt „Radio“ die Kunststoffbahn zusammen und wartet auf den gemieteten Bus, mit dem ein Dutzend Rapper, Tänzer und Graffitikünstler der Elite Schulen in der Comuna 13 für eine Werbetour abklappern werden. Die Stimmung ist ausgelassen. Auf dem Sportplatz der ersten Schule bauen sie Boxen auf und rollen die Tanzfläche aus. Harte Beats dröhnen.
„Wir sind die Herren unsrer Taten. / Die Großen sind im Krieg und ihre Kinder ernten Trauer. / Gottes Augen tränen still / denn sie sehen wie viel Geld in Gewalt und Drogen fließt.“
„Radios“ Sprechgesang dröhnt über den Schulhof, die Schüler rappen seine Texte auswendig mit. „Soll ich Euch Mateo bringen?“ fragt „Radio“, und die Kids kreischen „Jaaa!“. Mateo ist in ihrem Alter und der Justin Bieber der Comuna 13. Jeder kennt ihn. Um so zu werden wie er, füllen sie gern die Anmeldeformulare der Elite de Hip-Hop aus.
Der Auftritt wiederholt sich in fünf weiteren Schulen. Dann haben sich 420 Schüler zum Hip-Hop-Unterricht angemeldet.
Abends feiert die Elite in einem Haus nahe des Gefängnisses. Hier ist es einigermaßen sicher. Auch Mateo hat endlich Freigang. „Radio“ hat seine Freundin mitgebracht. Tetrapacks mit Anis-Schnaps machen die Runde, kleine Plastikbeutel mit weißem Pulver wechseln diskret den Besitzer. Mit dem Joint geht es hinter die Tribüne des nahen Stadions. Dort haben die sicarios das Rauchen gestattet. Raucht jemand woanders, wird er von denen abgeknallt, die ihm den Stoff verkauft haben.
Gegen ein Uhr morgens taucht ein junger Mann mit vollen, geschwungenen Lippen und nach hinten gekämmtem Haaren auf. Er hält sich etwas am Rand der Party, nur wenige sprechen mit ihm. Jeder kennt ihn. Jeder weiß, dass „La Boca“ – der Mund - in der Hierarchie der sicarios ganz weit oben steht, „Nummer vier von achtzig“, sagen sie. So einer hat vielfach gemordet und ist selbst nur noch mit Glück am Leben. Auf Fragen stottert er mit weicher Stimme eine Antwort, weicht den Blicken aus. „Aber wenn er den Auftrag hat, jemand umzulegen, verliert er jede Schüchternheit“, sagen sie auf der Party.
Vor zwei Tagen stürmte die Polizei das Haus und verhaftete den Anführer
„La Boca“ nimmt uns mit in das Haus seiner Gang. Da ist es stiller. Acht sicarios leben hier, je zwei teilen sich ein Zimmer. Vor zwei Tagen stürmte die Polizei das Haus und verhaftete den Anführer, „El Negro“. Ihre Waffen, die offen rumlagen, beschlagnahmten sie nicht. Die Polizei weiß, was „La Boca“ macht. Trotzdem gehört er zu einem Projekt zur Reintegration von Paramilitärs und Guerrilleros, für das er monatlich Geld von der Regierung bekommt. „Fuerza Joven“ - „Jugendliche Kraft“ - heißt das Programm, ein hilfloser Versuch, mit dem Krieg in den Armenvierteln Schluss zu machen. „La Boca“ und seine Freunde gaben nur alte Knarren ab, kassieren immer noch jeden Monat einen Mindestlohn von der Stadtverwaltung und verdingen sich weiter für die Drogenmafia. Die Stadtverwaltung hatte anfangs die Auszahlung der Stipendien an die Rapper für ihre Schule an die Bedingung geknüpft, die Elite de Hip-Hop müsse sich der „Fuerza Joven“ eingliedern. Doch das lehnte die Elite in einem demokratischen Beschluss ab.
Auch „La Boca“, 24, hat früher gerappt. Seit er vor vier Jahren zum sicario wurde, geht das nicht mehr. Als Rapper muss man zu Festivals außerhalb des eigenen Viertels gehen, über die unsichtbaren Grenzen. Doch die sind für „La Boca“ unpassierbar geworden.
„Mir gefallen die Texte der Rapper“, sagt „La Boca“, „sie beschreiben die Realität in der Comuna. Ich verpasse kein Konzert.“
„Aber ‚La Boca‘, die Texte sind gegen die Gewalt und den Drogenkrieg im Viertel gerichtet! Gefällt Dir nicht, was Du tust?“
„Das einzig Gute an meiner Arbeit sind die leichten Mädels. Der Rest ist Mist.“
„Schaust Du den Opfern in die Augen, wenn Du tötest?“
Wieder das schüchterne Lachen, der verlegene Blick.
„Nein. Es ist leichter so.“
Für seine Feinde bleibt er der sicario, den sie töten müssen
Ein sicario unter dem Kommando von „La Boca“, der seinen Namen nicht sagen will, schloss sich der Drogenmafia nur an, weil er Nike-Turnschuhe haben wollte. Einmal dabei, konnte er nicht mehr aussteigen. Für seine Feinde bleibt er der sicario, den sie töten müssen. Hat er noch Träume? Tränen treten ihm in die Augen. Er ist 21 Jahre alt und wird nicht mehr lange leben.
Juan T hatte gesagt: „Bei der Drogenmafia kannst Du Dich nicht bewerben. Zu der wirst Du berufen.“ Partys und gemeinsamer Drogenkonsum verbinden. Dealer werben Freunde. Sicarios und die Hip-Hopper der Elite haben miteinander Kontakt. Doch bei den Gesprächen der Hip-Hopper geht es nicht nur um Drogen, Geld und Frauen, sondern vor allem über Hip-Hop, über die elegante Powerline bei dem Graffiti-Schriftzug drüben an der Tribüne des Stadions, über richtige Technik beim Tanzen und Reimen, über Pläne zum Aufbau der Hip-Hop-Schule und das nächste Festival. Dinge, die Mateo und Juan über die Jahre gegen das „schlechte Leben“ immunisieren, obwohl ihr Schutz sicher kein absoluter ist und immer wieder aufgefrischt werden muss.
„Die Escalones sind nicht verschwunden, haben sich damit abgefunden, dass ihre Waffen Reime sind.“
„‚La Boca‘ bewundert uns, auch wenn er sagt, dass wir Schwächlinge seien“, sind sich die sicher, die ihn kennen. Vielleicht stimmt das nicht. Aber es klingt stolz.
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Ein Beitrag über die Elite de Hip-Hop ist im Oktober 2011 in “GEOlino” erschienen.